Die Idee der Selbstversorgung ist bei Weitem keine neue. Das Konzept der autarken Versorgung wurde bereits in diversen Modellen auf ganze Städte angewendet. Eine Herausforderung, die neue Chancen und Möglichkeiten für Bewohner und Umwelt verspricht, wie ein Blick ins rheinland-pfälzische Andernach beweist. Andernach gilt in Deutschland als das Pilotprojekt.

Essbare Stadt: Was steckt dahinter


Als „essbare Stadt“ werden eine Reihe von Projekten, welche zum Anbau von Lebensmitteln im öffentlichen Raum dienen, bezeichnet. Die Lebensmittel dürfen sowohl pflanzlichen als auch tierischen Ursprungs sein. Da die genutzten Flächen in der Stadt anders als auf dem Land sehr begrenzt sind, muss der Platzmangel durch Kreativität gefördert und ausgeglichen werden. Vielfach werden so Balkone, Wände oder Dachflächen in ein grünes Kleid gehüllt. Freizeitflächen wie Fußgängerzonen, Parks und Spielplätze können mit essbaren Pflanzen geschmückt werden. Die Herstellung und Verteilung der Lebensmittel verschmelzen, da diese direkt von allen Stadtbewohnern angebaut und geerntet werden dürfen. So werden die Städte nicht nur grüner und lebensfreundlicher gemacht, sondern auch Menschen aus allen Gesellschaftsschichten in das Projekt mit einbezogen. Dadurch kann auch auf fortschrittlichste Art und Weise ein einheitlicher Lerneffekt erzielt werden.

Der Beginn einer Bewegung

Alles begann 2008 mit einer Initiative im nordenglischen Todmorden. Dort suchten engagierte Bürger und Bürgerinnen, eine Antwort auf die Frage, welches Thema im gemeinsamem Interesse aller Menschen läge, ohne hierbei von Altersgrenzen, Einkommen oder kulturellen Hintergründen abhängig zu sein. Die Antwort: „Food“.

Unsere Ernährung, einschließlich Herstellung, Transport, Verkauf, Abfallverwertung trägt mehr als 30% zu unserem ökologischen Fußabdruck bei mehr als Verkehr oder Wohnen. Um das ganze Jahr für eine exotische Vielfalt in deutschen Supermärkten zu sorgen, legen Obst und Gemüse aus verschiedenen Kontinenten und Ländern meist eine halbe Weltreise hinter sich. Das alles kostet Energie. Energie die sich nachtteilig und ineffizient für Mensch und Umwelt auswirkt.  Es steht außer Frage, dass unser Lebensstil, mit all seinem Überfluss und Konsum nicht für immer in seiner jetzigen Form existieren kann. Dringliche Herausforderungen stehen an. Der demografische Wandel als auch das Klima sind nur eine der wenigen Faktoren, die immer mehr Einfluss ausüben. Eine vorbildliche Interaktion durch eine nachhaltige Nutzung von Raum und Ressourcen ist nötig um langfristig diesen Herausforderungen gerecht zu werden. All dies kann vom Konzept der Permakultur aufgegriffen werden.

Permakultur: Was ist das?

Permakultur ist ein kreativer Gestaltungsansatz, der auf eine Welt schwindender Energie- und Ressourcenverfügbarkeit reagiert. Des Weiteren zielt der Entwurf auf ein nachhaltiges Umsetzen von Landwirtschaft und Gartenbau ab, welche das genaue Nachahmen und Beobachten natürlicher Kreisläufe und Ökosysteme verinnerlicht.

Ökologische Stadtplanung

Im städtischen Raum befinden sich viele Grünflächen in Form von Parks oder öffentlichen Gärten. Häufig gibt es aber auch Räumlichkeiten die städteplanerisch ungünstig oder überhaupt nicht genutzt werden. Die „essbare Stadt“ füllt diese Lücken mit dem größtmöglichen Nutzfaktor für Mensch und Umwelt. Urbane Landwirtschaft und kreative Gestaltung stehen im Mittelpunkt. Ökologisch, ökonomisch und optische Funktionen sind gleichermaßen von Bedeutung. So erfolgt Gemüseanbau mit all seiner Vielfalt und Variation im öffentlichen Raum. Von jedermann für jedermann. So sieht man vermehrt Kartoffeln und Kohl statt Blumen. Autonomie und Identifikation können innerhalb einer Gemeinschaft neu gelebt werden. Die Orte der Umsetzung könnten hier kreativer nicht sein. Hochbeete in der Fußgängerzone, Tomatenbeete im mittelalterlichen Burggraben oder ein duftender Kräutergarten kann über die ökologische Stadtplanung umgesetzt werden. Der Stadtraum wird zum An- und Abbau von Lebensmitteln genutzt und so wieder lebendig, da eine echte Interaktion mit den Bürgern stattfindet. Eine lokale Versorgung soll vor Ort auch im Falle einer Krise schützen. Das Andernacher Motto sagt bereits alles aus: Statt „Betreten verboten“ heißt es hier „Pflücken ausdrücklich erlaubt“.

Von Andernach- über ganz Deutschland

Bevor die Kleinstadt Andernach mit ihren 30.000 Bürger und Bürgerinnen als „essbare Stadt“ ein Paradebeispiel für nachhaltige und kommunale Grünraumplanung in Deutschland werden konnte, mussten einige Widerstände überwunden werden. Zunächst mussten die Bürger und Bürgerinnen sowie der Verwaltungsapparat von der Idee, welche Dr. Lutz Kosack federführend initiierte, überzeugt werden. Es gab Zweifel ob das Projekt als solches bei den Bürgern der Stadt angenommen werden würde. Oft werden Grünflächen nur mit geringem Aufwand der Stadtverwaltung betrieben und die Wahrnehmung des öffentlichen Raumes als tatsächliche Nutzfläche war noch nicht allgemein verbreitet. Des Weiteren gab es Zweifel am ästhetischen Mehrwert und Befürchtungen vor Vandalismus. Allerdings hat die „essbare Stadt“ nicht nur ökologische und nachhaltige Vorteile für die Allgemeinheit, sondern bringt auch soziale Nutzen mit sich. Denn der perma-kulturelle Stadtgarten benötigt das Engagement der Mitmenschen. Frei nach dem Prinzip: Von jedem für jeden. Die Motivation der Bürger, welche das Angebot der Grünflächen in Anspruch nahmen, war durch seine Unterschiedlichkeit geprägt. Für einige ist das kostenfreie Angebot attraktiv, wieder andere können so ihrer Ernährung gesund und abwechslungsreicher gestalten.

So setzte sich das „Stammpersonal“ aus Freiwilligen, Langzeitarbeitslosen und professionellen Gärtnern zusammen. Auch wurden im Zuge der Flüchtlingswelle weitere Personen hinzugezogen um auf diese Weise eine Integration zu ermöglichen. Durch die Eigenverantwortung und direktes Mitwirken der Bürger entsteht ein neues Wahrnehmen und Identifizieren der Teilnehmenden am Konstrukt Gesellschaft. Sinnstiftend ist eine Zusammenarbeit mit Schulen und weiteren Bildungsinstitutionen um auch die jüngsten Generationen wieder bewusst mit Lebensmittel und ihrer Herkunft in Kontakt treten zu lassen. So werden in den Grundschulen Andernachs mit modernsten Mitteln Schulgärten und Bienenstöcke installiert.

 Kleine Schritte, große Wirkung

Das Konzept der essbaren Stadt ist nicht nur eine Antwort auf den gegenwärtigen Zeitgeist der den Umweltschutz speziell hervorhebt, sondern zeichnet sich im Besonderen durch drei Kernwerte aus.

  • Gemeinschaft neu denken
  • Transfer von Wissen
  • Nachhaltigkeit

Erstens soll die Gemeinschaft als Wirgefühl wieder im Vordergrund stehen- ein Zusammenkommen soll ermöglicht werden. So wird ein Ort der gemeinsamen Begegnungen geschaffen für Menschen die sich aufgrund unterschiedlicher kultureller, finanzieller und beruflicher Hintergründe nicht begegnet wären. Zudem soll das Projekt nicht nur den bürgerlichen Gemeinschaftssinn fördern, sondern auch die Aspekte und Vorteile der Selbstversorgung. Dadurch kann auf lokaler Ebene die Widerstandsfähigkeit gegenüber Krisensituationen verbessert werden, da man nicht mehr abhängig von äußeren Faktoren ist.

Zweitens sollen auch jüngere und künftigere Generationen in das Projekt „essbare Stadt“ mit einbezogen werden. Hier kann sich ein großartiger Lerneffekt einstellen und eine Generation von nachhaltigen denkenden Menschen geschaffen werden. Durch enge Partnerschaften können so Schüler einen wirklichen Bezug zu Lebensmittel erleben und somit ihren Konsum sowie die Herkunft der Produkte, die im Supermarkt angeboten werden kritisch hinterfragen. Außerdem können gleichermaßen wichtige Perspektiven geschaffen werden für Langzeitarbeitslose, Migranten und Schüler. Denn die „essbare Stadt“ setzt ein Handeln das einen tatsächlichen Sinn und einen Zweck verfolgt voraus. Nämlich den Anbau von Lebensmitteln. Öffentliche Kultur-, Bildungs- und Teilnahmeangebote wie beispielsweise Ausstellungen, Vorträge und Workshops können hilfreich sein. So kann durch kleine Schritte eine große Wirkung erzielt werden, denn die Kinder von heute sind die Erwachsenen von morgen.

Drittens ist der Aspekt der Nachhaltigkeit eine wichtige Säule im Konzept der „essbaren Stadt“. Regionale und lokale Erzeugnisse obgleich tierischen oder pflanzlichen Ursprungs stehen im Mittelpunkt. Eine Steigerung des Bewusstseins für die Wichtigkeit unserer Natur und Produkte aus lokalem Boden ist erforderlich für einen verantwortungsvollen Umgang mit unseren begrenzten Ressourcen. Weiterhin kann mehr auf lokale Produkte geachtet werden. Von Gemüse über Fleisch, Milch und sogar Bier kann die gesamte Herstellung transparent erfasst werden, da sich die Standorte der Produktion in unmittelbarer Reichweite befinden. Deshalb ist eine respektvolle Beziehung zu unseren Lebensmitteln aus nachhaltiger Sicht wünschenswert. Schließlich wollen wir doch wissen, wo unser Essen eigentlich herkommt.